HII – Ein Krimi auf und neben dem Feld!

Sonntag 26.11.2017, 16:00 Uhr GMT + 1: In Tallinn fällt leichter Nieselregen vom Himmel, die Temperatur nähert sich langsam dem Gefrierpunkt und die Sonne verabschiedet sich hier auf dem Breitengrad 59°26‘13‘‘ N schon beängstigend früh. Insgesamt eine eher garstige Angelegenheit um sich in der Stadt umzusehen. Einzig der süsse Duft von warmen Glögi in der Luft durchbricht die Tristesse und erheitert (vor allem bei übermässigen Konsum) die Gemüter der dick eingepackten und trotzdem schlotternden Menschen.

Gleichzeitig 1‘766 km Luftlinie entfernt, 15:00 Uhr GMT: Die Schiedsrichter Riedweg und Wyss pfeifen die Partie der einzigen Obwaldner 2. Liga-GF-Unihockeytruppe an. Gegner sind die Elche aus Wangen-Brüttisellen. Unter Turnhallenflutlicht herrschen angenehme, fast schon mediterrane, 23 Grad, Tendenz steigend. Zwei Plastikschaufeln klatschen gleichzeitig auf den Ball, das Bully geht verloren, ein schlechter Start in die Partie.

Zurück in der Hauptstadt Estlands, 9 Meter über Meer. Ein Mann, gekleidet in einem blauen Mantel, die Kapuze übergestreift, schleicht nervös zwischen den Ständen des Weihnachtsmarktes umher. Vorbei an der Tafel mit der Aufschrift „Nominee for best Christmas Market in Europe“ weiter in Richtung McDonald‘s. Ja, 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist der Kapitalismus auch hier angekommen, denkt er sich, während er suchend weiterläuft.

Wie immer, wenn Zuhause gespielt wird, ist die Anspannung gross. Man ist darauf angewiesen, hier Punkte zu holen, konnte man dies bisher auswärts doch noch nie bewerkstelligen. Umso wichtiger macht dies die Heimspiele. Die Zuschauerränge sind gut gefüllt. Jedoch spielt anschliessend noch die NLB-Mannschaft von Ad Astra Sarnen und da weiss man nie so genau, ob die jetzt anwesenden Fans tatsächlich wegen dem 2. Liga Spiel da sind oder ob sie sich in der Zeit vertan haben und zu früh in die Halle gekommen sind. Wenn sie sich zu früh in die Halle verirrt haben sollten, mussten sie es heute immerhin nicht bereuen, wurden sie doch eben Zeuge des Startpfiffs zu einem Unihockey-Krimi.

Vorfreude auf das Spiel!

Vorfreude auf das Spiel!

Der blau eingekleidete Mann wird zunehmend unruhiger und läuft vom McDonald‘s zurück zum Weihnachtsmarkt. Das Treffen war vereinbart um Punkt 16:00 Uhr. Er kontrolliert seine Uhr: 16:02 Uhr. Schon zwei Minuten zu spät. Ihn beschäftigt dies deshalb, weil er die Esten in den letzten 48 Stunden als sehr pünktliche Menschen kennengelernt hat. Würde das Treffen gar platzen? Und was, wenn es doch klappen würde, sie den gesuchten Memory-Stick aber nicht dabei hat?

Die Geschichte beginnt gut für die Herren aus Obwalden. Anders als üblich, verwerten sie schon eine ihrer ersten Chancen zum 1:0 Führungstreffer, doch hält diese Führung nur bis zur Mitte des ersten Drittels. Von solchen Einschüchterungsversuchen lässt sich das Heimteam heute aber allem Anschein nach nicht unterkriegen, sondern spielt weiterhin munter vorwärts. Einmal an der Bande nach vorne, quer hinter dem Tor durch, zurück auf die blaue Linie, Schuss vom Verteidiger, Ablenker vor dem Tor und der Ball ist drin! Jubelschreie fluten die Turnhalle, während auf dem Spielfeld schon wieder weitergespielt wird. Die Matchuhr läuft. Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack, … 90 Sekunden vergehen ohne weitere Geschehnisse. Jetzt aber ein Angriff von Wangen-Brütisellen. Der Pass kommt nicht an, wird abgefangen und der Konter ist lanciert. Ein Einheimischer kann alleine in Richtung des grün-weiss gekleideten Torhüters ziehen. Nur den Bruchteil einer Sekunde später sieht man kurz etwas Schwarzes aufblitzen, es kracht, ein Stock zerbricht, der Balls springt weg und für einen Moment herrscht totentstille            …            dann der Pfiff, Penalty! M. Odermatt steht breitbeinig am Anspielpunkt. Mit den Augen den Torhüter fixierend, läuft er los. Eine Woche zuvor wurde ihm ein Penalty-Treffer noch aberkannt, weil er den Ball angeblich zurückgezogen haben soll. Die Gedanken daran sind in diesem Moment weit weg. Er sieht die Lücken beim Torhüter. Oben links und unten rechts ist alles offen. Sein Plan geht aber anders. Er verlangsamt das Tempo, nimmt den Ball auf die Vorhand, täuscht einen Schuss an, zieht auf die andere Seite rüber. Beim angetäuschten Schuss zuckt der Torwart nur kurz zusammen, reagiert aber nicht darauf. Die anschliessende Körpertäuschung macht er jedoch mit, was es Odermatt wiederum ermöglicht, noch einmal blitzschnell auf die Vorhandseite zu wechseln und den Ball, am Torhüter vorbei, einzuschieben: Tor!

Die Minuten verstreichen. Mittlerweile hat sich die Uhr schon weitere 15 Mal um die eigene Achse gedreht. Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme hat der Mann nicht. Er ist fremd in der Stadt, verfügt über kein ausländisches Datenpaket fürs Smartphone und besitzt sowieso nur die E-Mail Adresse von seiner Kontaktperson. Von Letzterer ist er sich nicht einmal sicher, dass es tatsächlich auch die echte ist. In diesem Moment tritt eine als Santa Claus verkleidete Person auf die Bühne des Weihnachtsmarktes in der Altstadt von Tallinn. Er beginnt etwas auf Estnisch zu erzählen, immer wieder unterbrochen von Szenenapplaus des Publikums. Wieso genau geklatscht wird, ist dem Mann schleierhaft, versteht er doch nicht ein Wort Estnisch. Trotzdem ist er fasziniert von der Sprache und der Begeisterung der Estinnen und Esten für den Weihnachtsmann ganz nach amerikanischem Coca-Cola-Vorbild. Er versteht diese Szenerie als weiteren Tatsachenbeweis für die Durchsetzungsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Ganz in seinen Gedanken versunken, realisiert er nicht, dass er mittlerweile zum einen direkt vor der Bühne steht und zum anderen, dass sich der Santa Claus zu ihm hinuntergebückt hat und ihn auf ebendiese Bühne bittet. Zusammen mit anderen Personen aus dem Publikum, die ebenfalls hinaufgebeten wurden, klettert er hinauf. Dort angekommen, erblickt er die von ihm gesuchte Frau in der Menschenmenge.

Mit einer drei zu eins Führung gehen die Obwaldner in die erste Drittelspause. Auf der Tribüne, wie auch in der Kabine, gibt man sich zuversichtlich, dass das Spiel gewonnen werden kann. Im Nachhinein führte diese Zuversicht vielleicht zum zweiten Drittel, welches schlechter nicht hätte sein können. Aber alles der Reihe nach. Das Mitteldrittel beginnt, wie jedes Drittel, mit einem Bully. Applaus von den Rängen für das gewonnene Anspiel. Schnell zeigt sich aber, dass das gewonnene Bully zu Beginn die wohl einzige positive Nachricht der nächsten zwanzig Minuten sein wird. Die Gäste tauchen ein ums andere Mal gefährlich nahe vor dem Tor der Obwaldner auf. Es macht sich die Gewissheit breit, dass es wohl nur eine Frage der Zeit ist, bis die Schiedsrichter ein erstes Mal länger in die Trillerpfeife blasen können, um ein Tor anzuzeigen. Schon nach 3:40 ist es soweit, der Ausgleich fällt. Und es kommt noch schlimmer. Wie die Uhr sich weiter dreht, fällt ein Tor ums andere. Als die Sirene nach 40 Minuten endlich die Erlösung bringt, haben die Elche vier Tore geschossen und die Einheimischen gar keines. 3:5 lautet das Verdikt nach 2/3 des Spiels.

Der Mann springt von der Bühne, immerhin doch 1.50 Meter Höhe, kommt bei der Landung ins Straucheln, rollt sich ab, verdreht sich dabei den Fuss und humpelt auf die Frau zu. Diese dreht sich ab und versucht, sich in der Menge zu verstecken. ‚Grey-Man-Theory‘ nennt man diese Taktik, das glaubt er, einmal in einem Hollywood-Film gesehen zu haben.

In der Kabine setzt es ein Donnerwetter ab, das man es noch auf der Tribüne oben hörte. Dies jedenfalls erzählen sich die Besucherinnen und Besucher nach dem Spiel. Dabei war es eigentlich nur halb so schlimm, auch wenn man natürlich überhaupt nicht zufrieden war mit dem zweiten Drittel. Aber diese Situation kennt man schon aus vergangenen Spielen in dieser Saison. Allgemein sind die meisten Spiele der Zentralschweizer immer einer Art Achterbahnfahrt. Wenn man bisher in einem Spiel 60 Minuten lang konstant gespielt hat, dann war es eine konstant schlechte Leistung. Eine konstant gute Leistung über 60 Minuten gab es noch nie. Nun aber, mit der Vorstellung im Kopf, dass es nur noch besser werden kann, tritt die Mannschaft wieder aufs Spielfeld. Gleich zu Beginn kann man ausserdem mit einem Mann mehr spielen. Anpfiff. Das Powerplay funktioniert gut. Der Ball läuft durch die eigenen Reihen wie ein frisch geschliffenes Messer durch eine Schwarzwäldertorte. Die Kirsche obendrauf ist der Abschluss, der im Tor landet und die Hausherren um ein Tor näher zum Ausgleich bringt. Nach diesem Startfurioso flacht die Partie ein wenig ab. Der Ball ist mal hier und mal dort, bis er mehr oder weniger aus heiterem Himmel im Tor der Obwaldner landet. Wiederum sieht man sich mit einem Zwei-Tore-Rückstand konfrontiert und es bleiben nur noch 15 Minuten zu spielen…

Der Santa Claus von Tallinn.

Der Santa Claus auf dem Weihnachtsmarkt von Tallinn.

Sein Fuss schmerzt und trotz der Kälte läuft ihm der Schweiss hinunter. Ob vor Anstrengung oder aus Angst weiss er nicht. Weiterhin hält er verzweifelt nach der Frau Ausschau. Wenn er den Memory-Stick nicht wieder bekommt, dann kann er gleich seine Stelle in der Schweiz kündigen, in Tallinn bleiben und seine Zukunft hier planen. Wenn diese Zukunft dann überhaupt noch existiert.

Nur noch 15 Minuten, aber was dies für welche 15 Minuten werden sollen! Diese Kampfansage kommt von der Obwaldner Bank, nachdem das Team sein Time-Out genommen hat. Nun rollt eine Angriffswelle nach der anderen in Richtung gegnerisches Tor. Der Druck ist mittlerweile so gross, dass sich die Gäste nur noch mit unlauteren Mitteln zu wehren wissen. Die logische Folge ist eine Zweiminutenstrafe gegen Wangen-Brüttisellen. Wir sind in der 55. Minute angelangt. Jetzt wird alles auf eine Karte gesetzt. Torhüter raus und sechs gegen vier! Der Ball geht verloren, der sechste Feldspieler sprintet raus, der Torhüter wieder rein. Gerade noch rechtzeitig, um den heranfliegenden Ball abfangen zu können. Weiter geht’s. Torhüter raus, sechster Feldspieler rein. Noch dreissig Sekunden Überzahl. Da kommt der Ball zum heutigen Assist- und Strafenkönig L. Beroggi. Er legt ihn direkt weiter zu B. von Rotz und dieser schliesst mit einem klassischen One Timer ab, so wie er es in jungen Jahren beim EHC Engelberg gelernt hatte: 5:6 und noch über drei Minuten sind zu spielen! Die Halle brennt! Die beiden Hooligans machen Stimmung auf der Tribüne und reissen damit sogar die sonst eher zurückhaltenden Freundinnen, Frauen, Eltern, Kollegen, und wer sich sonst gerade noch so in der Halle tummelt, mit. Über kurze Zeit wird noch versucht, den Ausgleich bei fünf gegen fünf zu schaffen, jedoch ohne zählbares Resultat. Die letzten 90 Sekunden brechen an. Torhüter wieder raus, sechster Feldspieler rein: Kommando Vollgas! Da liegt ein Sieg noch drin. 60 Sekunden. Aus allen möglichen Lagen wird aufs Tor geschossen. 30 Sekunden. Der Ball ist wieder zurückerobert und es bietet sich den Obwaldnern die vielleicht letzte Angriffsmöglichkeit. 25 Sekunden. B. von Rotz bekommt den Ball links aussen, zieht zur Mitte, schiesst, der Torhüter lässt abprallen. 20 Sekunden. R. Christen steht goldrichtig! Der Abpraller fliegt vor seine Füsse, er staubt ab und schiebt den Ball ins Tor: Ausgleich, Gleichstand, 6:6! Die Mitspieler stürmen aufs Feld und bejubeln den Ausgleich wie den Siegestreffer!

Mittlerweile ist es schon fast 18:00 Uhr in Tallinn. Seit über einer Stunde ist der Schweizer auf der Suche nach der Frau mit seinem Memory-Stick. Die Übergabe ist geplatzt, dessen ist er sich sicher. Durchgefroren und erschöpft setzt er sich auf eine Bank in irgendeiner Seitenstrasse der Altstadt. Die Sonne hat sich schon lange hinter dem Horizont der Ostsee verabschiedet. Seine Stimmung passt so gar nicht zur weihnachtlichen Atmosphäre, die die Strassen Tallinns mit der festlichen Beleuchtung und der dazu passenden Musik verströmen.

Die Sirene ertönt durch die Turnhalle. Das dritte Drittel ist zu Ende, die Verlängerung kann kommen. Auf den Zuschauerrängen sind sie siegessicher. Hoffentlich färbt dies auf die Spieler unten auf dem Feld ab. Trotz der zuvor überschwänglichen Freude, starten die heute rot-schwarz aufspielenden Obwaldner konzentriert in diese Verlängerung. Die Elche hingegen scheinen verunsichert und deprimiert über den späten Ausgleich zu sein. Alles läuft nun für das Heimteam. Die Hälfte der fünf Minuten ist bereits vorüber, da brandet zum zweiten Mal grenzenloser Jubel durch die Turnhalle. Der Ball liegt im Kasten der Elche! Wie das jetzt genau geschah, das hat niemand wirklich gesehen aber egal. Tor ist Tor und Torschütze ist B. von Rotz! Sieg! Der Zusatzpunkt bleibt im Obwaldnerland! Elchtest bestanden!

Freude nach dem Spiel!

Freude nach dem Spiel!

Zur gleichen Zeit in Tallinn. Der Schweizer mit dem blauen Mantel steht von der Bank auf und macht sich auf den Rückweg in Richtung Hotel. Sein leerer Blick schweift mal hierhin und mal dorthin. Da vibriert sein Smartphone. Ohne es bemerkt zu haben, lief er am Café vorbei, wo er gestern noch einen Espresso getrunken hatte und sich ins WLAN einloggte. Letzteres geschah jetzt für einen kurzen Moment offensichtlich wieder. Er nimmt das Smartphone nach vorne, öffnet den Whatsapp-Chat und liest die Nachricht aus seiner Unihockey-Gruppe: „Gratulation“ steht da. Diese Nachricht zaubert ihm ein kurzes Lächeln aufs Gesicht. Vielleicht wird das ja doch noch was in diesem wunderschönen Tallinn.

 

Anmerkung: Da der Chronist selber nicht in der Turnhalle anwesend war, sondern im Ausland weilte, sind alle oben beschriebenen Vorgänge der Fantasie entsprungen und beruhen einzig auf den Fakten vom offiziellen Spielbericht und persönlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit.

 

Ad Astra Sarnen II – UHC Elch Wangen-Brüttisellen 7:6 n.V. (3:1, 0:4, 3:1)

Dreifachturnhalle, Sarnen. 141 Zuschauer + 2 Hooligans. SR Riedweg/Wyss.

Tore: 02:07 Furrer (Odermatt) 1:0. 10:52 Schuler (Peduzzi) 1:1. 14:27 R. von Wyl (Beroggi) 2:1. 16:04 Odermatt 3:1. 23:40 Peduzzi (Moser) 3:2. 26:58 R. Dällenbach (Obrist) 3:3. 38:07 Peduzzi (T. Dällenbach) 3:4. 38:56 Lanzini (Rauser) 3:5. 40:32 Furrer (Beroggi) 4:5. 44:03  Zinggeler (Peduzzi) 4:6. 56:20 von Rotz (Beroggi) 5:6. 59:40 Christen (von Rotz) 6:6. 62:39 von Rotz 7:6.

Strafen: 3mal 2 Minuten gegen Sarnen. 3mal 2 Minuten gegen Eschenbach.

Sarnen: Bucheli, S. von Wyl; L. Abächerli, Schäli, R. Isler, Durrer, Beroggi; R. von Wyl, Lengen, Barmettler; Britschgi, Schürmann, von Rotz, Huser, Odermatt, Gerig, Christen, Furrer.

Wangen-Brüttisellen: Rauser; Lanzini, Schäfers, Schuler, T. Dällenbach, Illi, Steffen, Zolliker, R. Dällenbach, Klauenbösch, Staub, Moser, Albright, Obrist, Zinggeler, Müller, Frommenwiler, Peduzzi, Kathan.